Grenzen des Wachstums?
Von einer Fußgängerbrücke aus blicke ich an einem sonnigen Wochenende im Frühjahr 2020 auf den fast autofreien mittleren Ring in München, eine normalerweise dicht befahrene, mehrspurige Stadtautobahn. Dabei denke ich an eine Zeit in meiner Kindheit, als wir Sonntags mit Fahrrädern autofreie Autobahnen erkundeten. Es ist die erste große Ölkrise Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, an die ich mich erinnere.
1972 veröffentlichte der „Club of Rome“ eine Studie mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ zur Zukunft der Weltwirtschaft und der Menschheit im Allgemeinen. Die Studie untersuchte welche Konsequenzen ungebremstes Wachstum der Weltwirtschaft auf Dauer für Menschen und Umwelt im globalen Maßstab haben wird. Die Krise Anfang der siebziger Jahre war ein einschneidender Einbruch nach einer langen Zeit außerordentlichen wirtschaftlichen Wachstums, aber auch eine Zeit des Auf- und Umbruchs, denn die Erkenntnis der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen beförderte die Entwicklung nicht nur alternativer Energien, sondern auch von Technologien, die neue Dimensionen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung eröffneten. Die Digitalisierung trat aus dem Schatten der klassischen Industrie. Die Grundlagen für das heutige Internet entwickelten sich, die Automation in industriellen Betrieben schritt voran. Roboter setzten sich durch in Fabriken. Das Modell wirtschaftlichen Wachstums, getrieben von der Annahme unbegrenzter Verfügbarkeit fossiler Rohstoffe, verlor an Bedeutung und Überzeugungskraft.
Die Krisen der Siebziger Jahre leiteten das Ende der Schwerindustrie in Europa und den USA ein, während sich gleichzeitig die IT-Industrie zu einem Schlüsselbereich der Weltwirtschaft entwickelte. Die Türen öffneten sich für ein neues Zeitalter des Wachstums.
Antifragilität
Soweit es zum jetzigen Zeitpunkt absehbar ist, unterscheiden sich die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie in einigen Punkten von vorherigen Krisen. Es ist nur bedingt die Krankheit selbst, die das Wesen der Krise ausmacht. Es sind eher die Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit, die sich als Herausforderung darstellen. Es ist nicht mehr nur die plötzliche Verknappung eines Rohstoffes oder das Fehlen organisatorischer Regulierung. Es ist eine Herausforderung grundsätzlicher Natur, die ausgelöst durch eine Pandemie die Fragilität global vernetzter Strukturen offenlegt.
Ist dies nun die Stunde der “Antifragilität”, um einen Begriff, den Nassim Nicholas Taleb in “Antifragile: Things That Gain From Disorder (Random House, 2012)” darstellt, aufzugreifen?
Taleb schreibt: “Antifragility is beyond resilience or robustness. The resilient resists shocks and stays the same; the antifragile gets better“
“Antifragilität” zeichnet also aus, nicht einfach nur “Schocks” widerstehen zu können und dabei aber bestehende Strukturen eher zu schützen als zu verändern, sondern aus dem “Schock” heraus Vorhandenes zu verbessern, wenn nicht gar Neues zu schaffen.
Ist die derzeitige Weltordnung, ein Gebilde hochkomplexer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen, angesichts einer scheinbar wie aus dem Nichts kommenden Entschleunigung, eines erzwungenen zeitweiligen Stillstands in der Lage, diesen Schock zu bewältigen, aus ihm heraus gar einen “New Deal” der Antifragilität entstehen zu lassen?
Die Frage impliziert, dass die globale Vernetzung in sich eine, wenn auch unsichtbare, so aber doch vorhandene Struktur hat. Allerdings ist es eine Eigenart hochkomplexer Strukturen, dass sie eben nicht unbedingt einem bestimmten Bauplan folgen, sondern eher gewachsen, wenn nicht gar gewuchert sind. Welche Schlussfolgerungen einzelne Menschen, Unternehmen, Organisationen oder Gesellschaften aus den Auswirkungen der derzeitigen Krise ziehen, hängt stark davon ab, inwieweit jeweils ein Bewusstsein entsteht für konstruktive Schlussfolgerungen. Frühere Krisen geben hier Anhaltspunkte.
Während der Finanzkrise 2008/09 zum Beispiel wurde deutlich, wie sehr sich eine auf Spekulation bauende, virtuelle Welt komplexer Finanzprodukte der Realwirtschaft ermächtigt hat. Auch die Verwerfungen danach und die mehr oder weniger erfolgreichen Rettungsversuche konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Realwirtschaft längst nur noch spekulativer Bezugspunkt ist für eine ansonsten frei schwebende Finanzwelt.
Gab es seitdem im Finanzsektor ein Momentum der “Antifragilität”? Vielleicht in dem Sinne, dass Banken vorsichtiger geworden sind und heute bei weitem bescheidener agieren als vor der Finanzkrise. Investment-Banking, vor der Finanzkrise 2008 die Avantgarde der Finanzwelt, hat seitdem stark an Bedeutung als tragende Säule der Banken verloren und Institute, die diesen Geschäftsbereich massiv ausgebaut hatten, mussten mit Steuergeldern gerettet werden.
Aber ist dies nicht eher “resilience and robustness”, wie Taleb sagt, also eben nicht besser werden und aus der Krise heraus Neues schaffen, sondern Bestehendes schützen?
Doch sind seitdem auch innovative Finanzdienstleister und Fintech-Unternehmen entstanden, die dezentral arbeiten und gezielt auf digitale Technologien und schlanke Strukturen setzen. Ihre Gründerinnen und Gründer kommen zum Teil aus der alten Finanzwelt und hatten ihr Momentum der “Antifragilität”, indem sie nicht einfach nur “Schocks” widerstanden, sondern neue Wege gingen. Dafür aber mussten sie ihr “altes” Umfeld verlassen.
War es Zufall, dass 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto das Bitcoin-Whitepaper und im Januar 2009 die erste Version der Referenzimplementierung Bitcoin Core veröffentlicht wurde? Bitcoin als eine der ersten “Crypto Currencies” initiierte eine neue, wenn auch bis heute umstrittene Finanzökonomie, die traditionelle Strukturen, insbesondere die Rolle der Banken, als vermittelnde Institutionen nachhaltig herausfordert.
Normalität in Zeiten der Krise
Die “Normalität der Krise” könnte bedeuten, dass es kein Zurück mehr gibt in die selbstverständliche Normalität vor Corona. Ja sogar, dass Krisensituationen zu einem Dauerzustand werden. Eine Zeit lang sieht es vielleicht so aus, als ob Normalität zurückkehrt, dann plötzlich steigt die Infektionsrate wieder und Lockerungen werden zurückgenommen. Dieser Zustand kann sich über Monate, wenn nicht gar Jahre hinziehen. Niemand kann dies zum jetzigen Zeitpunkt abschätzen.
In einer Zeit der Ungewissheit bietet sich die Möglichkeit der Reflexion – nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Organisationen und Unternehmen. Wie können wir uns vorbereiten auf die Zeit nach der Krise, ja auch auf die nächste Krise? Welche Lehren können wir ziehen? Jetzt, wo die übliche Betriebsamkeit stark eingeschränkt ist, wo Menschen in ihren Wohnungen sitzen und über das Netz kommunizieren, ist kritisches Hinterfragen bisheriger Gewissheiten die Gelegenheit der Stunde. Der plötzliche Wegfall ansonsten selbstverständlicher Handlungen im beruflichen und privaten Umfeld stellt fast alle Geschäftsmodelle in Frage, die stark von direkter zwischenmenschlicher Kommunikation abhängig sind. Es ist zur Zeit noch nicht nicht absehbar, wann wieder eine Entspannung im gesellschaftlichen Leben eintreten wird.
Die Selbstverständlichkeit aber, mit der Menschen vor der Krise auf Reisen gingen, wird so schnell nicht wiederkommen. Zu sehr sitzt die Angst vor dem Unsichtbaren, dem nicht Greifbaren. Mehr noch als vor COVID-19 wird nun deutlich, dass die kontakt- und ortsunabhängige Verfügbarkeit von Information eine wichtige Grundlage für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen ist.
Dabei hat die Krise sehr unterschiedliche Auswirkungen auf einzelne Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Exemplarisch möchte ich einen Blick werfen auf die Fertigungsindustrie, eine der Säulen wirtschaftlichen Wachstums und der Stabilität in Deutschland und Europa.
Der Bitcoin Moment der Industrie?
Die Fertigungsindustrie, gerade in Europa stark vertreten im Mittelstand, hat über Jahre hinweg sehr profitiert von Aufträgen im globalen Maßstab. Lieferketten, die über Europa, Amerika, Asien und Afrika gehen, sind eine Selbstverständlichkeit. Mittelständische Unternehmen konnten zu Weltmarktführern aufsteigen. Die Automation in der Produktion spielte schon früh eine wichtige Rolle, erlaubte sie doch die flexible Anpassung an die Anforderungen der Märkte. Wie in einem wissenschaftlichen Experiment aber, in dem einem Gemisch eine bestimmte Substanz entzogen wird, legt die Corona Krise offen, wie sehr auch die Fertigungsindustrie nach wie vor abhängig ist von direkter menschlicher Interaktion und analogen Kommunikationswegen. Automation ist bereits tief verankert in den Produktionsprozessen und Roboter sind allgegenwärtig in Fabriken. Doch wird deutlich, dass nun, da die Selbstverständlichkeit menschlicher Präsenz und Kommunikation wegfällt oder stark eingeschränkt ist, es eben nicht nur Maschinen sind, die Automation ausmachen, sondern vielmehr Information, ihre Entstehung, Verfügbarkeit und Verarbeitung.
Allzulange waren digitale Technologien zwar Gegenstand allgemeinen Interesses in Medien und auf Veranstaltungen, doch hat ihre nachhaltige und umfassende Durchdringung industrieller Strukturen bei weitem noch nicht eine Dimension erreicht, in der sie direkten menschlichen Kontakt weitgehend ersetzen könnten. Durch Corona erhält die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung eine neue Dringlichkeit.
Wird es wie Bitcoin im Finanzwesen auch in der Fertigungsindustrie ein neuartiges Konzept, eine Technologie geben, die ausgelöst durch die Krise traditionelle Strukturen herausfordert und die Grundlage legt für neuartige Geschäftsmodelle?
Im nächsten Beitrag begeben wir uns auf die Suche nach dem “Bitcoin Moment” der Fertigungsindustrie.
Für Fragen oder Anmerkungen steht Ihnen das Magic Team zur Verfügung.